Episode 01: Stagetime

Welches sind die Bühnen, auf denen dein tägliches Leben spielt? Dieser Frage widmen wir uns in der ersten Folge Fugengold, mit der wir die Bühne der Podcasts betreten.

Wir laden dich ein zu einem ersten Date mit Erving Goffman, der dir mit seiner Folie der „Bühne“ eine neue Perspektive auf tägliche Situationen bietet. Oder wahlweise die passende Maske als Ausschnitt deiner Identität, mit der du dich bestimmten Moment stellen kannst.

Zusammen mit der Architektur Psychologin Rotraut Walden spüren wir dem perfekten Arbeitsplatz nach und werfen dabei einen Blick in zwei Welten, die unterschiedlicher kaum sein könnten: das Lehrerzimmer und Co-Working Spaces für Startups.

Des Weiteren werden die zwingenden Fragen beantwortet, warum es ok wäre, wenn Bill Gates einen Dickies Pulli trägt und ob man vor dem Partner aufs Klo gehen kann.

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Die Episode „Stagetime“ bietet einen neuen Blickwinkel auf Rollenklischees, soziale Interaktionen mit Freunden, Partnern und Kollegen, das perfekte Büro sowie den Umgang mit Veränderungen und Unerwarteten Situationen und lädt zum Abschweifen ein. 

Auf welcher Bühne hörst du gerade diese Folge? Auf dem Laufband als leistungsoptimierter Fitnessjünger? Im ÖPNV, wo du dir ein lautes Lachen besser verkneifst, um seltsamen Blicken zu entgehen? Oder in der Wanne, wo dir vielleicht sowieso die besten Ideen kommen? Wir freuen uns über deine Gedanken, Fragen und Anregungen.

Im Sinne dieser ersten Folge: Lasst uns werden, was wir noch nicht sind. Also auf zur nächsten Bruchstelle!


Essay: Stagetime

Auf ein Date mit Erving Goffman

Tinder hat es geschafft den Begriff des Date neu zu formen. Und das gerade mit einer einfachen, ja bis ins unterkomplexe reduzierten, binären Formel: Links oder rechts. Verwehrt man sich dieser Entscheidung, dann erreicht die App schon mit der ersten Benutzung ein jähes Ende. Verknappung der Verknappung könnte man es auch nennen, aber das reicht natürlich nicht, schließlich steht hinter den hochfrequent eingeforderten Entscheidungen, welcher Partner nun der nächste sein könnte oder nicht, einerseits eine bereits existierende ökonomische Mechanik, eine, die es zuvor sicher auch schon gegeben hat, die nun aber umso mehr an der digitalen Oberfläche, auf dem Display, lesbar wird, andererseits ein wesentlich komplexeres soziales Geflecht, ein Netz aus fingierter Selbstdarstellung, ein Einfordern, Einlösen und fordern amouröser und/oder sexueller Währung, oftmals angegeben in Form von Körpergröße, persönlicher Integrität oder monetärer Handlungsmöglichkeiten und zuletzt, wohl am wichtigsten, ein abgeschlossener virtueller Raum für die Projektion der eigenen Phantasie, die vorerst noch ungesehen bleibt und genau darin ihren Reiz ausübt. Inhaltlich hat sich dabei zum klassischen Date, das man aufgrund der eingeforderten charakterlichen Echtheit des Gegenübers, seiner Authentizität, als naturalistisch bezeichnen könnte, wenig geändert, denn das eigentliche Date hat schon stattgefunden, bevor es stattgefunden hat. Schon mit dem Einrichten und Ausstaffieren des eigenen Profils wird die Bühne betreten, welche Interaktion, Darstellung, also letztlich Rolle verlangt, um funktional zu bleiben und die flexible Agenda des Rahmens Dating erfüllen zu können. Ohne materielle Grundlage hinter der Oberfläche des Digitalen, ohne die im Realen, also der Welt der unmittelbaren physischen Anwesenheit beider Partner praktizierten Performanz, bliebe es wohl lediglich bei einer Generalprobe. Und diese ist notwendig. Ohne Premiere aber bleiben Interaktion, Darstellung und Rolle unerfüllt. Die Bühne und die daran angeknüpfte Performanz gewinnt ihre Komplexität gerade durch die Vielzahl der daran Teilhabenden, dem Ensemble. Jede Rolle, die das Subjekt-Ich erfüllt, steht in wechselseitiger Abhängigkeit von den Rollen der anderen. Jeder ist zugleich Publikum und Darsteller innerhalb seiner Interaktion, also innerhalb des wechselseitigen ausgeübten Einfluss. Gleichsam erforderlich ist es aber, und nicht weniger typisch, die zu betretende Situation im Vorfeld zu gliedern, vor zu strukturieren. Definiert und eingegrenzt wird nach Abgleich mit dem Alteritären: Verhalten, Erscheinungsbild und soziale Umgebung. Dieser kleinen Feldprobe folgt umgehend eine spezifische Auswahl von Informationsvermittlern bzw. Zeichenträgern. Schon hier wird die eigene Performanz vorausprojiziert, bevor sie unmittelbar umgesetzt werden kann. Das Selbst wird hierbei über Wortsymbole ausgedrückt, das eigene Verhalten und damit letztlich das eigene Handeln möchte Botschaften ausstrahlen. Diese Prozesshaftigkeit aller an der sozialen Interaktion partizipierenden steht dabei fortlaufend im Abgleich mit der Bühne, dem Ensemble. Die hierdurch notwendigerweise entstehende Labilität der sozialen Situation beinhaltet gleichzeitig den Wunsch nach einer Normalsituation, eines oberflächlichen Abgleichs hin zur Übereinstimmung, mit dem Ziel einer provisorischen Konfliktvermeidung. Die eigens entworfene Performanz ist gleichsam ständig zu akutalisierenden Sicherungs- und Korrekturmaßnahmen unterworfen, um einen Ordnungsverlust, also diskreditierende oder peinliche Situationen zu vermeiden. Das Maßhalten in der Wahl der Projektion, ihrer Intensität und entworfenen Erwartungshaltung, ist eine notwendige Folge. Elementarer Bestandteil des Darstellers bleibt aber die Wahl eines unverzichtbaren Requisits: der Maske, ein selbst geschaffenes Bild, ein diversifiziertes Element der eigenen Persönlichkeit. Im synchronbedürfitgen Spiel von Rolle und Maske verbinden sich beide zur zweiten Natur des Darstellers. Nicht jede Situation wird dabei neu gerahmt, und, obwohl die Rolle dynamisch und flexibel bleibt, ständigen mikroskopischen Veränderung unterworfen ist, manifestieren sich standartisierte Ausdrucksrepertoires, die mal bewusst, mal unbewusst angewandt werden. Gewisse Fassaden stechen in der Darbietung sichtbar hervor, die im Idealfall eine kohäsive Einheit aus Bühnenbild, Erscheinung und Verhalten bilden.    

Schnell wird Goffmans Credo ‚Wir spielen alle Theater‘ greifbar, materialisiert sich im Raum des eigenen Handelns und Wirkens und eröffnet den Blick auf das sich fortlaufend perpetuierende Informationsspiel von Verheimlichen und Entdecken, dem Täuschen und Verstellen. 

Im Subtext der tinder‘schen Vorauswahl, nämlich der Definition der Profile, Eigenheiten, Vorlieben, gesellschaftlichen Gangbarkeiten, ästhetischen Repräsentationen etc., wird bereits das ganze Begriffsuniversum Goffmans sichtbar und anschlussfähig: Die informative Auswertung der sozialen Situation, die Wahl der eigenen Rolle und Maske, das daran maßgeblich geknüpfte Interaktionsbedürfnis, der korrekturintensive Abgleich, der Wunsch nach Symmetrie im Kommunikationsprozess und letztlich die spiralförmige Dopplung bei der ersten Begegnung, wenn alle Darsteller physikalisch anwesend interagieren, sich täuschen und entdecken. Der durchaus vorhandenen und offen lesbaren ökonomischen Reduktion von links und rechts, von Zustimmung und Ablehnung, von Akzeptanz und Ignoranz, also auch der getroffenen Entscheidung, geht eine komplexe Prozesshaftigkeit voraus, die unsere eigene soziale Wirklichkeit in einer erschreckenden Genauigkeit widerspiegeln kann. Denn letztlich verfällt gerade das Ensemble der Verführung, die eigene Aufmerksamkeitsökonomie fortlaufend zu rekonstituieren.  

Auf spannende Weise bleibt damit die Frage offen, ob nicht das Darstellerspiel und die Reflektion des Ensembles in anderen Facetten des Alltäglichen sinnstiftend und gewinnbringend ist und ob nicht gerade die offenen Fragen an die Bühne bleiben sollten.                 

Literatur

  • Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 2003.

  • https://www.uni-hohenheim.de/fileadmin/einrichtungen/soziologie/Download/Download_Studium/ss2007/3_Goffman_I.pdf, 03.11.2019.

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Ein paar schlaue Worte, mit denen du beim Party-Smalltalk angeben kannst …

Begleitend zu jeder Episode verfassen wir ein kurzes Essay, in dem wir ergänzende Gedanken, weiterführende Inhalte und hilfreiche Nachträge zur Verfügung stellen. Dies kannst du hier herunterladen und lesen.


Shownotes:


Ein Blick hinter die Kulissen von Goffmans Bühne erhaschst du hier.

Chice Designbüros und Inspiration für New Work-Arbeitsplätze findest du auf Instagram unter @designmilkworks.

Wenn du wissen möchtest, die sich ein Arbeitsplatz auf deine Gedanken und Leistungsfähigkeit auswirkt, schau dir die Arbeit von Rotrau Walden an.

Anknüpfend daran schau dir den TED Talk von Amy Cuddy zu Priming an. Dort lernst du, wie Körpersprache und Umfeld sich auf dein Verhalten auswirkt.

Marc Süß